Die Schönen und die Hässlichen

Riesige rosa Gebilde verdeckten ihr fast die Sicht. Die komischen Dinger zupften an ihr und zogen, sanft aber bestimmt. Sie löste sich. Sie konnte nicht anders, die rosa Teile waren einfach stärker. In diesem Moment wusste sie, sie war verloren. Für immer. Endgültig.

Und dann flog sie. Fiel sie. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich schwerelos. Hätte sie nicht so Angst gehabt, hätte sie vielleicht sogar gelächelt vor Glück. Bis sie landete. In einem Korb voll mit anderen. Und schon klatschte die nächste auf sie.

«Aua!», schrie die Kirsche. «Du? Hier??», frag- te jene, die auf sie gefallen war: «Noch hässli- cher kannst Du ja kaum mehr werden. Mach Dir nichts draus.» Und schon lachten alle anderen Kirschen im Korb.

Schon immer war sie von den anderen ausge- lacht worden: «Wenn Du Glück hast, wirst Du zu Schnaps gebrannt. Das tut so richtig weh. Und dann kannst Du den Menschen die Tränen in die Augen treiben mit Deiner Hässlichkeit – echt scharf wirst Du dann sein», spotteten die ande- ren Kirschen am Baum.

Als sie noch klein war, hatten ihre winzigen Kerben und Augen sie nicht gestört. Näggi halt, man sah sie fast nicht. Doch als sie wuchs, wurden die Näggi grösser und sichtbarer – und die anderen rund herum begannen sie auszula- chen. Bis schliesslich der ganze Baum über sie lachte. Ihr Ast versuchte sie zu trösten: «Bleib doch einfach hängen bei mir und lass Dich nicht einsammeln. Dann fällst Du irgendwann her- unter und aus Dir wächst ein wunderschöner neuer Kirschbaum. Viele, viele Jahre kannst Du dann hier stehen; bei mir. Die anderen Kirschen sind dann schon längst nicht mehr da…» Aber die anderen spotteten nur umso lauter: «Als ob aus der jemals etwas Schönes werden könnte!»

Da beschloss die kleine Kirsche, eines Tages die Schönste und Prallste am Baum zu sein. Sie reckte und streckte sich, damit sie schnel- ler wüchse und ihre Haut ebenso glänzend und glatt würde, wie die der anderen. Wenn die Sonne kam, versteckte sie sich unter einem Blatt, damit sie nicht schrumpelig würde, und bei Regen kam sie heraus, um zu wachsen. Aber alles nützte nichts, die Kirsche blieb hässlich.

Allein und traurig hing sie an ihrem Ast. Nicht beachtet und ausgelacht. Voller Näggi. Je grös- ser sie wurde, desto besser waren sie zu sehen. Entsetzlich.

Dann, eines Tages kam die Hand, die sie vom Ast pflückte. Da wusste sie, sie war verloren. Nicht einmal ein schöner Baum würde aus ihr wachsen können. Kurz darauf wurde sie von den anderen getrennt – und siehe da, es gab noch mehr Kirschen, die aussahen wie sie. Viele sogar. «Uns kann man halt nicht verkau- fen», sagte eine von ihnen, «mal sehen, was aus uns wird.» «Sicher Schnaps», ängstigte sich die Kirsche, «dann brennen wir und sind scharf.» Vor lauter Angst, wollte sie aus dem Korb hüpfen. Aber Kirschen können nicht hüpfen…

Auf einmal wurde es dunkel um sie. Selbst die anderen hässlichen Kirschen begannen sich ein wenig zu fürchten und wurden still. Dann rumpelte und bumpelte es, und sie wurde durchgerüttelt und geschüttelt. Fast wäre ihr schlecht geworden: Es zitterte und zapperte und manchmal quietschte es ein wenig.

Als es wieder hell wurde, sah sie eine funkeln- de, glitzernde Umgebung. Eine Hand nahm sie sanft aus dem Korb, löste sachte ihren Stein aus der Mitte und legte sie vorsichtig in ein süsses, weiches Bett. Wohlig kuschelte die Kirsche sich hinein. Dann wurde es warm. Richtig heiss. So heiss, dass die Kirsche zu schwitzen begann. «Aber das brennt ja gar nicht», dachte sie verwundert, kurz bevor sie in der Hitze das Bewusstsein verlor. Als sie wieder aufwachte, war es kühl um sie herum und angenehm. Und zum ersten Mal in ihrem Leben konnte sie sich selber sehen. Im Glas der Kühlvitrine: Eine wun- derschöne, saftige Kirschwähe.

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