Schneetröpchens Reise

Ich muss da wieder hin. Unbedingt. Ankommen, endlich ankommen. Ich habe schon mit meinem Liebsten geredet, dem Wind. Und er sagt, er wird mich wieder hinbringen.

Wer ich bin? Eines von vielen. Ihr nennt uns Wolke. Aber das sind wir nicht. Wir sind Wassertröpfchen und Eiskristalle, wenn es kalt ist. Schnee und Regen. Das, was die Erde blühen lässt. Wir ziehen, wohin Wind uns trägt: von Norden nach Süden, von Westen nach Osten. Wir fallen zu Boden und steigen wieder auf in den weiten Himmel. Immer wieder aufs Neue. Nur wenn es kalt ist, Winter nennt Ihr das, bleiben wir etwas länger liegen. 

Ich mag den Winter. Und am liebsten habe ich diesen kleinen Ort mit dem schönen Haus, wo ich fast einen ganzen Winter lang auf dem Dach lag. Vor zwei Jahren waren wir da. Diese ruhige, angenehme Atmosphäre. Die netten Stimmen aus dem Haus, die feinen Düfte. Mein Liebster, der Wind, hat mit erzählt wie‘s drinnen aussieht: behaglich mit einem sanften Feuerchen im Kamin und einer lauschigen Wärme in den Zimmern. So richtig gemütlich halt.

Dann kam der Frühling. Und kurz nachdem wir aufgestiegen waren und wieder zur Wolke wurden, ist es passiert. 

Wind hatte uns gerade über die grosse Sandfläche getrieben. Heiss war es da und kalt in der Nacht. Einsam und weit. Ich kam mir fast verloren vor. «Wir sind in Afrika, über der Sahara», flüsterte mein liebster Wind mir gerade noch zu, als ich schon fiel. Es war noch früh am Morgen, doch auf meinem Weg nach unten, kam auf einmal Schwester Sonne hervor. So schnell und so heiss, dass ich nicht einmal am Boden ankam, den ich doch benetzen sollte, damit der Sand sich in Blüten verwandelt. Ich habe mich schon vorher aufgelöst und war verschwunden. Einfach weg.

Als ich dann wieder oben war, wusste ich nicht mehr, wer ich denn bin. Könnt Ihr Euch das vorstellen, wie das ist? Da erwachst du und erinnerst dich nicht mehr an dich. Noch nie war ich so lange weg gewesen.

Später erinnerte ich mich wieder. Ich hatte noch darum gekämpft ganz zu Boden zu fallen, mich nicht vollständig zu verlieren. Mit aller Macht und Kraft hatte ich mich zusammengehalten. Ich schrie, ich zog mich zusammen, hielt mich fest. Da war es schon zu … Und ich hatte mich verloren.

Ich sollte glücklich sein, immer noch ich zu sein. Viele andere von uns haben sich gar nie mehr wiedergefunden. Still und mit grossen Augen schweben sie nun neben mir her. Und es werden immer mehr. Als ob sie eine ansteckende Krankheit hätten. 

Wo sie selbst geblieben sind? Wer weiss. Wenn du mit Ihnen sprichst, ist es, wie wenn du mit nichts sprichst. Sie antworten mir zwar, aber in Worten, die ich nicht verstehe. So als ob sie an einem ganz anderen Ort lebten. Einem Ort, der nicht da ist, nicht hier ist, sondern irgendwo sonst. Im Nirgendwo. Fast ohne sich selbst. Neben sich.

Was soll ich nur tun? Jedes Mal wenn wir zur Erde fallen und wieder aufsteigen werden es mehr. Bald werde ich mit Wind alleine sein und nur noch mit ihm reden können. Was soll ich nur tun?

Da hatte ich eine Idee. «Bring mich zurück» habe ich Wind gebeten. Ihm zugeredet. Ihn umschmeichelt, geherzt, geküsst: «Bring mich zurück.» «Wohin?», hat er mich gefragt. «Zu dem schönen Haus über dem schönen Tal.» Dahin, wo die Bächlein rauschen, wo ich bin, was ich bin. Dahin, wo ich weiss werde, wenn der Winter kommt. Dahin, wo wir ruhen können. Und träumen. Endlich wieder träumen.

Bald sind wir da. Bald. Doch noch ist es zu warm. Ich kann mich kaum mehr halten. Wenn ich jetzt falle, ist es zu spät. Dann sind wir Regen statt Schnee. Und bis wir wieder fallen können, sind wir ganz woanders. Nur noch ein Stückchen, ein kleines Stückchen noch, ein paar wenige Tage. Ich will noch nicht fallen. Nein!

Mit allerletzter Kraft hält der kleine Tropfen sich in der Wolke fest. Bis er loslassen muss. Und fällt. Nein, schwebt. Er hat sich in eine Schneeflocke verwandelt und gleitet langsam und weiss der Erde entgegen und dem Haus in den schönen Tal. Diesem kleinen Stück Heimat. Wo er liegen bleibt. Einen ganzen Winter lang. In den Monaten der Ruhe erzählt er den anderen vom Ankommen, von drinnen im Haus, von den Menschen, von den Düften nach gutem Essen. Und vom Heimkommen. Zu sich selbst. Nach einer langen Reise.

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