Keine Eseleien

Sabrina kann das Kleine schon spüren. Immer wieder tritt es aus und macht Beulen in ihren Bauch. Sie freut sich schon. Sobald sie Mutter ist, kann sie ihrem Kleinen die Familiengeschichte erzählen…

«Weisst Du», wird sie sagen, «wir haben’s gut heute, richtig gut. Wir dürfen hier stehen, grasen und ab und an den Menschen zuwiehern. Manchmal tragen wir auch ihre Koffer hoch. Das wirst Du auch tun, wenn Du grösser bist, schon bald darfst Du vielleicht mit… Bei deinen Ururururgrosseltern war das alles noch ganz anders». Mit grossen Augen schaut das kleine Eselchen seine Mutter an, stellt Sabrina sich vor. «Warum?», fragt es.

«Dein Urururgrossvater wurde im Stall geboren, seine Mutter musste daheim bleiben. Die anderen waren unterwegs – nach Italien und zurück. Weisst Du, damals hatten die Menschen noch nicht diese komischen Eselmaschinen, die sie Auto nennen. Wir Esel, die Maultiere und die Pferde mussten alles tragen, was zu schwer war für sie. So waren die beiden allein im Stall, denn die Reise wäre zu anstrengend gewesen für Deine Ururururgrossmutter.» «Wieso?», fragt das kleine Eselchen.

«Weil die Reise nicht nur lang war. Sie ging über Berge und Täler, durch den ewigen Schnee, manchmal war der Weg kaum sichtbar. Und wenn eine andere Gesellschaft des Weges kam, musste man aufpassen, dass man nicht abstürzt, so eng waren die Wege in den Bergen.»
Den kleinen Esel schaudert’s. Er stellt sich vor, wie das sein muss, wenn man so am Wegrand entlang geht und in eine tiefe Schlucht blickt. Manchmal hat er schon Angst, wenn er einen Hang zu lange hinunterblickt. Naja, nur ein ganz klein wenig Angst – aber das würde er nie zugeben! «Also ich würde da einfach durchlaufen», sagt er frech.

Seine Mutter lächelt nur… «An diesem Tag regnete es, die Wege waren glitschig und noch gefährlicher als sonst. Manchmal hörte man von Weitem Lawinen ins Tal donnern. Unheimliche Töne füllten die Landschaft, etwa so», die Mutter trommelt mit den Hufen auf den Boden. «Die Esel waren schwer beladen mit Käselaiben. Auf den Rückweg würden sie Wein und andere Waren aus dem Süden transportieren, die dann unten in Meiringen auf dem Markt verkauft werden. Huf um Huf ging es über die gebirgigen Pfade.»

Gebannt hört der Kleine seiner Mutter zu. «Da knackt es unter dem rechten Hinterhuf Deines Ahnen. Der Wegrand bricht weg.

Schwerbeladenwieerist,beginnt Dein Grossvater zu schwanken, kann sich kaum mehr halten. Langsam rutscht er ab, immer weiter in Richtung Schlucht. Wäre er doch nicht so nahe am Rand gegangen… Laut wiehert er um Hilfe. Fast schon ist auch der linke Huf über dem Rand …» Der kleine Esel zittert, «und dann? Wie geht es weiter Mama?» «Wenn beide Hufe und das Hinterteil über den Rand hinaus sind, ist es zu spät. Kein Esel und kein Mensch kann dann mehr helfen. Die Last ist zu schwer», erzählt sie weiter.

«Plötzlich schnappt eine Hand sich seinen Zügel. Der Säumer ist nach hinten gerannt, nimmt sich den Zügel, steckt ihn einem anderen Esel ins Maul. Gemeinsam ziehen sie. Immer noch rutscht der Huf, ja das ganze Hinterteil auf den Abgrund zu. Als sie Halt finden. Endlich. Schritt um Schritt ziehen sie Deinen Ahn vom Rand weg … bis er in Sicher- heit ist. Der Schreck sitzt ihnen in den Knochen.

«Fast. Fast wäre dein Ururururgrossvater abgestürzt – und mit ihm die wertvolle Ware. Zum Glück ist ihm nichts geschehen. Man sagt sich, im gleichen Moment sei Dein Urururgrossvater zur Welt gekommen. ob’s wahr ist? Wer weiss…» Erleichtert atmet der kleine Esel auf. «Aber später will ich trotzdem das Menschengepäck von Meiringen hier hochtragen», nimmt er sich abenteuerlustig vor.

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